Spanische Grippe 1918

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Die Spanische Grippe von 1918 bis 1919

Ursprung

Zu Beginn des Jahres 1918 grassierte in den Kasernen der US-Armee eine Grippe, die von amerikanischen Soldaten an die Westfront des europäischen Kriegsschauplatzes gebracht wurde.
Französische Militärärzte nannten die Seuche «Drei-Tage-Fieber», weil die Erkrankung meist nur wenige Tage dauerte.
Ungewöhnlich war, dass die Sterblichkeit bei jungen Erwachsenen zwischen 20 und 40 Jahren am höchsten war. Und unerwartet waren auch der ausgesprochen aggressive Charakter der Krankheit und ihr rascher Verlauf.
Todesursache war nicht das Virus selbst, sondern in den allermeisten Fällen eine bakterielle Lungenentzündung, wogegen noch keine Arzneimittel zur Verfügung standen.

In kürzester Zeit entwickelte sie sich zur bisher verlustreichsten Pandemie, welche je nach Schätzung 35 bis 50 Millionen Menschenleben kostete. Da auch der spanische König Alfons XIII. daran erkrankte und die ersten unzensierten Nachrichten über die Seuche aus Spanien kamen, nannte man sie «Spanische Grippe». Heute bezeichnet man den Erreger der Spanischen Grippe als Grippevirus H1N1.
Die Mediziner kannten weder die Ursache der Seuche noch Behandlungsmethoden zu deren Bekämpfung. Die Krankenhäuser waren so überfüllt, dass Notlazarette eingerichtet werden mussten.

Die Pandemie erreicht die Schweiz

Wegen umfangreichen Truppentransporten, verbunden mit grossen Fluchtbewegungen, konnte sich die Seuche rasch ausbreiten. In die Schweiz eingeschleppt wurde sie vermutlich in Austauschzügen mit ausländischen Kriegsverwundeten und Internierten, die das Land durchquerten.
Obwohl nicht in Kampfhandlungen verwickelt, waren die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auch in der Schweiz deutlich spürbar. Die Behörden hatten, wohl in Erwartung einer nur kurzen Kriegsdauer, erst spät und teilweise ungeeignete Massnahmen ergriffen.
Ab dem Jahresende 1917 litt ein Grossteil der Schweizer Bevölkerung auf Grund von Versorgungsengpässen und Ernteausfällen an Hunger und Unterernährung. Als die Spanische Grippe im folgenden Frühling die Schweiz erreichte, traf sie auf geschwächte Menschen, die besonders anfällig waren.

Bereits die erste Erkrankungswelle ab Frühsommer 1918 brachte zahlreiche grippebedingte Todesfälle. Betroffen waren besonders Soldaten der Grenzbesetzungstruppen und Rekrutenschulen. Im Verlauf der Pandemie wurden rund 50% der Schweizer Bevölkerung von der "Influenza Epidemie", wie sie auch genannt wurde, angesteckt.

Zwischen Juli 1918 und Mai 1919 starben schweizweit rund 25 000 Personen an dieser Krankheit. Die Sterblichkeit stieg um 41%, gleichzeitig sank die Lebenserwartung von 55,4 auf 46,3 Jahre. Die Grippe-Todesfallrate lag bei 5,46 auf 1000 Einwohner.

Ausbreitung in Wellen

Die schwere Pandemie verlief weltweit, wie auch in der Schweiz, in drei Wellen. Die erste Welle kam 1918, die zweite und heftigere Welle in den Monaten Oktober und November, die dritte abgeschwächte Welle in den Monaten Februar / März 1919.

Symptome der Spanischen Grippe

Die Erkrankten litten schlagartig an:

  • Frösteln oder Schüttelfrost
  • Müdigkeit
  • Kopf-, Glieder-, Rückenschmerzen
  • Reiz- oder Krampfhusten.
  • Lungenentzündung

Die Körpertemperatur begann über die Dauer von ein, zwei Tagen zu steigen. Das Fieber stieg bis auf 40 Grad, teils auch über 41 Grad Celsius. Die Pulsfrequenz war zudem verlangsamt.
Nach wenigen Tagen fiel das Fieber wieder ab. Den meisten Kranken ging es dann besser. Wer nicht starb, litt oft ein Leben lang unter Schwäche oder neurologischen Funktionsstörungen.

Umgang mit der Pandemie

Im Oktober – November 1918 weigerten sich die Spitäler, Grippepatienten aufzunehmen.
In der Presse erschienen Listen, auf denen aufgezeichnet war, wie viele Personen in den Spitälern aufgenommen, wie viele Personen starben oder wie viele entlassen wurden.
Die Anzahl Grippetoter wurde immer grösser. Es gab Pflegerinnen, die tagelang nie aus ihren Kleidern kamen und Tag und Nacht an den Krankenbetten weilten, bis sie entweder selbst zusammenbrachen oder krank wurden.
Medizinisches Personal und Forscher widersprachen sich über die Herkunft, die Verbreitung und die Behandlung der Krankheit. Fehlinformationen waren sowohl in der wissenschaftlichen als auch in der täglichen Presse zu lesen. Angst machte sich breit.

Um dieser Seuche Herr zu werden, wurden einschneidende Massnahmen angeordnet:

  • Schulen wurden geschlossen
  • Restaurants und Kaffees hatten Einschränkungen in den Öffnungszeiten
  • Poststellen wurden vorübergehend geschlossen
  • Der öffentliche Verkehr fuhr unregelmässig
  • Freizeitaktivitäten in Gruppen waren verboten
  • Theater, Kinos, Tanzlokale wurden zeitweise geschlossen
  • Konzerte wurden abgesagt
  • Kirchen wurden geschlossen
  • Beerdigungen wurden auf fünf trauernde Personen beschränkt
  • Gräber wurden auf Vorrat ausgehoben, damit die Toten schnell begraben werden konnten

Grosse Widersprüchlichkeit gab es bei den Anordnungen über Veranstaltungsverbote und Restaurantschliessungen zwischen den einzelnen Kantonen.
Dieser Seuchenausbruch in der Schlussphase des 1. Weltkriegs und die wirtschaftlich dramatische Lage führte zu heftigen sozialen Auseinandersetzungen. Dies gipfelte am 12. November 1918 in einem landesweiten 3-tägigen Generalstreik, als schwerste politische Krise unseres Bundesstaates.

Ein Mundart-Gedicht von Lina Wisler-Beck vom 22.6.1920 umschreibt die damalige Situation:
Längwiligi Zitte
Niene isch Chilbi u niene isch Tanz
deheime ums Hus um versuret me ganz.
I ha mer scho mängisch der Chopf fasch verheit
was ächt no wär z’mache, dass Zyt umegeit.

Wär gwanet isch z’gumpe und z’tanze, o je
däm düe halt die Süche-Verordnige weh.
E jede muess säge, churzwiligs isch’s nit
No bsunders für ledigi, lustigi Lüt.

Grad äbe der Sunndig wird eim eso läng
s’Furtgoh isch verbote, u nämlech no sträng,
Gsiech eim deno öpper, o weisch de häts gfählt
do müesst me schwär buesse – u-ni ha kes Gäld!

Drum blieb i doheime. I schicke mi dry
u hoffe dä Jammer gang öppe verby.
I bi ja nid einzig, s’trifft anderi o,
s’isch ume es gwane, – Mi zahmet de scho!

Massnahmen im Appenzellerland

An der Sitzung vom 12. Oktober 1918 in Lutzenberg beschloss die Ausserrhoder Regierung zur Eindämmung der Ansteckungen ein Tanzverbot.
Im Amtsblatt vom 16. Oktober 1918 wurde dieses gleich auf der ersten Seite unter den so genannten „Influenza-Epidemie-Massnahmen“ publiziert. Bis auf weiteres waren vier Arten von Anlässen verboten:

  • Alle Veranstaltungen, welche zu grösseren Versammlungen führen können,
  • Alle öffentlichen und nichtöffentlichen Tanzanlässe,
  • Alle Konzertanlässe in Tanzsälen an Stelle von Tanzvergnügungen,
  • Alle theatralischen Aufführungen in geschlossener oder offener Gesellschaft

Der Kanton Appenzell Ausserrhoden empfahl Schutzmasken zu tragen (die aber im Nachhinein eher als untauglich betrachtet wurden). Sobald sich jemand ansteckte, musste er in Selbstisolation mit strikter Bettruhe. Auch damals empfahl man ein Niesen in die Armbeuge, Telefone wurden desinfiziert und die Schulen geschlossen. Es gab ein Semester ohne Zeugnisse.

Am 18 Januar 1919 hob der Kanton Appenzell Ausserrhoden die von ihm angeordneten Verbote wieder auf, da die erwartete dritte Welle hierzulande praktisch ausblieb.
Insgesamt waren im Kanton 9809 Personen an dieser Grippepandemie erkrankt, welche 239 Todesopfer forderte. Die Todesfallrate betrug 3,9 pro tausend Einwohner.

Die Spanische Grippe in Speicher

Mitten im Sommer 1918 trat die «Spanische Grippe» auch Speicher auf.
Obwohl sich der Krankheitsverlauf zu Anfang meist noch harmlos äusserte, blieben die Schulen nach den Sommerferien für drei Wochen geschlossen.
Nach einem vorübergehenden Rückgang in der zweiten Augusthälfte kehrte die Grippe in einer zweiten Welle sehr viel aggressiver zurück. Bis Ende Jahr gab es in Speicher 482 ärztlich gemeldete «Influenza- Epidemie» - Erkrankungen. Zudem gab es eine grössere Anzahl ungemeldeter Krankheitsfälle.

Gegen Ende Oktober beklagte man in Speicher ein erstes Todesopfer.

Bis zum Ende der Pandemie hatte Speicher total 12 an der Grippe Verstorbene zu beklagen, die meisten davon jüngere Männer.

So gesehen kamen Speicher und Appenzell Ausserrhoden im Gegensatz zur restliche Schweiz noch glimpflich davon.

Per Ende Mai 1919 war die Schweiz grippefrei, so dass auch der Bundesrat seine Beschlüsse zur Pandemie aufheben konnte.


Quellen: Text: Paul Hollenstein Staatsarchiv AR Fotos: SRK