Sängerfest 1825 - eine Weltpremiere

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Das Sängerfest auf Vögelinsegg vom 4. August 1825 stellt in der schweizerischen Sänger- und Chorgeschichte einen Meilenstein dar. Es war weltweit das erste Sängerfest überhaupt und wurde zum Prototyp aller späteren Sängerfeste. In der Literatur wird das Fest auch als „Wiege des Volksgesangs“ bezeichnet. Gesellschaftlicher Hintergrund war das Bewusstsein eines „schweizerischen Heimatgefühls“ mit der Bewusstmachung der Mythen, Geschichten und Gebräuche der alten Eidgenossen. Der verklärende Blick auf die - vermeintlich so verlaufene - Geschichte sollte den Bürgern im zwischen Staatenbunds- und Bundesstaatsorganisation hin und her gerissenen Staatswesen ein „Wir“-Gefühl einpflanzen.

Johann Heinrich Tobler als Organisator

Das Fest kam auf Initiative von Pfarrer Samuel Weishaupt aus Wald zustande. Er hatte zunächst in Wald einen Chor gegründet (1819) und 1824 den appenzellischen Sängerverein, den Zusammenschluss der in jener Zeit überall neu gegründeten Sängervereine. „Direktor“ des Festes war der Mitgründer des Appenzellischen Sängervereins, Johann Heinrich Tobler, der damals zugleich die Musikgesellschaft Speicher leitete. Das Fest war auch Gedächtnisfeier für die Schlacht bei Vögelinsegg. Mit von der Partie war auch die schweizerische Musikgesellschaft.

Echo weit über die Schweiz hinaus

Das Sängerfest fand in zahlreichen Zeitungen, Zeitschriften und weiteren Publikationen grosse Beachtung. Gabriel Rüsch beschreibt in „Der Kanton Appenzell historisch ….“, auf Seite 226 das Fest detailliert und mit mehr als nur blumigen Worten: „Mehr als ein von Wonne erfülltes Herz machte sich in begeisterten Reden aus dem Stegreife Luft; so Pfarrer Hug von Zürich, Deutsche drückten warm die Schweizer Hand und tranken auf die Freiheit Aller.“

Eine ebenso detaillierte Beschreibung des Festablaufs in teilweise gleich lautenden Worten wie bei Rüsch findet sich unter Korrespondeznachrichten „Aus der Schweiz“ im „Morgenblatt für gebildete Stände“, Ausgabe September 1825, aus dem Verlag J. G. Cotta: An die diesjährige, […] in St. Gallen sehr feyerlich begangene und aus allen Gegenden der Schweiz ungemein zahlreich besuchte Jahresversammlung der allgemeinen Schweizerischen Musikgesellschaft schloss sich unmittelbar (am 4. August) ein Sängerfest und Volksfest im edelsten Sinn des Wortes, das in dem nahgelegnen schönen Dorfe Speicher, und auf der berühmten Höhe von Vögeliseck, durch den vor etlichen Jahren gestifteten Appenzellischen Sängerverein veranstaltet war. Frühmorgens verkündigte harmonische Kriegsmusik den festlichen Tag durch den freundlichen Marktfleck. Um neun Uhr zogen die Sänger aus allen Gemeinden des Landes frohe Lieder anstimmend herbey.

Empfangen wurden sie im blumengekränzten „Schlipferschen Haus“ (vermutlich „Schläpfersches Haus", also Oberes Kaufhaus).

Festplatz Vögelinsegg nach J. U. Fitzi

Um elf Uhr begann der schöne Zug von mehr als 600 Personen, nach der geschmackvollen neuen Kirche, voran die Vorsteher der Gemeinde, um Ordnung zu halten, dann die Damen von nah und fern, die drey musikalischen Vereine und zahlreiche Gäste, worunter manche Ausländer, insbesondere auch alle Kurgäste aus Gais und andern benachbarten Schotten- und Badeorten.

In der Kirche sprachen der Speicherer Pfarrer Zuberbühler und Pfarrer Samuel Weishaupt, der mit dem Publikum eine Auswahl von Liedern vortrug. Anschliessend verteilte sich das Publikum auf die Gaststätten zum Mittagessen.

Festplatz mit Zelt, Eingangsbogen, Vortragskreis

Nach zwey Uhr verkündeten drey Schüsse den Anzug der mehreren Abtheilungen nach der erinnerungsreichen Höhe von Vögeliseck. Sämtliche musikalische Gesellschaften, die Vorsteher des Ortes und eine Menge Gäste traten nun unter dem Schalle der Instrumentalmusik von Speicher in einen weiten umzäunten Kreis. […] Zwey grosse Zelte waren aufgeschlagen […]. In der Mitte stand eine gedeckte Tafel mit einem silbernen Becher, wo die drey ersten Vorsteher des Appenzellischen Sängervereins ihre Stellung nahmen. […]

Es folgten „geistreiche, kraftvolle Reden“ im Wechsel mit „frohen Gesängen“ und „passenden Trinksprüchen, dem Schall der Musik und dem Donner des Geschützes“.

Vierhundert mit rotem Rebensaft gefüllte Gläser blinkten in den Lüften, die Musik fiel ein, die Mörser donnerten und verkündeten die Freude eines ganzen Volkes. […]

Eine Fortsetzung: Gesangsverein Speicher als Fahnenpate 1827

Am 2. August 1827 fand das „bundesbrüderliche Sängerfest“ in St. Gallen (als Jahresfest des Appenzellischen Sängervereins nach St. Gallen verlegt) statt. Dem Gesangsverein aus Speicher fiel die Ehre zu, der st. gallischen Singgesellschaft die neue Fahne zu überbringen: Den Mitgliedern von Speicher war die Ehre bestimmt, die neue Fahne des Vereins zu bringen, weil diese Gemeinde gegenwärtig die meisten Mitglieder hat. Ein von Hrn. Landsfähnrich Tobler hiefür gedichtetes und komponirtes Lied singend, brachten sie dieselbe in den Kreis, wo sie in lautem Chore mit zwei zweckmässig veränderten Strophen aus dem Liede: „Heilig, Brüder, ist der Bund.“ empfangen wurde. […]

Sängerfeste: Ausdruck von Nationalstolz und Patriotismus

Schon seit der Helvetik hatte sich in den Kantonen ein Nationalbewusstsein entwickelt. Obwohl man sich nach wie vor eher als Zürcher, Berner oder Appenzeller fühlte, wirkte dieses Bewusstsein integrierend. Das einheitliche Bürgerrecht aus der Helvetik wurde auch in der Mediationsakte übernommen. Obwohl ab 1815 in den Kantonen wieder das frühere Landrecht galt, wurde der "Schweizer" zu einem Überbegriff, dem sich (fast) alle zugehörig fühlten. Das Gefühl „Schweizer“ zu sein wurde verstärkt durch die Rückbesinnung auf vermeintliche oder überlieferte Werte, die ihren Ausdruck in Liedern (Jodel), Trachten, Spielen (Schwingen, Hornussen, Schiessen …) fanden, welche gemeinsam in Volksfesten zelebriert wurden Max Peter Baumann schreibt in „Musikfolklore und Musikfolklorismus“ (Amadeusverlag 1976) zu den anfangs des 19. Jahrhunderts aufkommenden Volksfesten: Im Dienste dieses „reinen, geläuterten, schweizerischen Gemeinsinns“ ertönten … die alten Kuhreihen (Jodel), Volkslieder und Kunst Gesänge. Damit drang der Jodel […] zum Zwecke des Kultes helvetischer Heimat, ins Bewußtsein breiterer Volksschichten. Ziel des Volksfestes war es, die „verschiedenen Volksklassen aller Cantone“ zu vereinigen, nähere Verbindungen unter ihnen zu schaffen, die Eintracht zu fördern, indem man die alten Spiele, Sitten und Gebräuche wiederaufleben ließ und den Gesang unter dem Volke richtungsweisend zu veredeln suchte. Solche Festveranstaltungen, aber auch das Vorbild der appenzellischen Landsgemeinde, fanden alsbald Nachahmung in der ganzen Schweiz. Sängervereine wurden gegründet mit der Aufgabe, die Feste zu verschönern. Am 4. August 1825 kam dann das erste Sängerfest, das als eigentliches Leitbild aller späteren Sängerfeste galt, auf Anregung des appenzellischen Sängervereins in Speicher und auf dem Vögeliseck zustande. […] Weitere Sängerfeste folgten 1826, 1827, 1836, 1842 und 1843. Am Fest von 1843 erfolgte zugleich die Gründung des eidgenössischen Sängervereins. An ihm sollen insbesondere die Appenzeller mit ihren Jodeln den ,Nerv’ der eidgenössischen Versammlung getroffen haben. Ihre Jodelliedkompositionen gingen vor allem auf Joh. Heinrich Tobler […] zurück […] In diesen frühen Chorliedern spielte der - meist noch in tiefer Lage - angehängte stilisierte Jodel bereits eine bedeutende Rolle.


Text: Peter Abegglen 2019

Quellen:

Gabriel Rüsch, Der Kanton Appenzell historisch, geographisch, statistisch geschildert; Huber & Cie. 1835

Morgenblatt für gebildete Stände, September 1825, Verlag J. G. Cotta

Appenzellisches Monatsblatt 1827, Band 3, Heft 8, S. 130 ff.

Max Peter Baumann „Musikfolklore und Musikfolklorismus“ (Amadeusverlag 1976)

Historisches Lexikon der Schweiz, Stichwort „Bundesstaat“