Kirchgenössigkeit vor 1614

Aus WikiSpeicher

Kirchlich gesehen gehörte das Land Appenzell seit seiner Besiedlung im 11. Jahrhundert zum Bistum Konstanz (errichtet um 600), genauso wie die Abtei St.Gallen. Spätestens seit dem 12. Jahrhundert umfasste es den weiten Raum zwischen Iller im Osten, Rhein und Aare im Westen, dem Gotthardmassiv im Süden und dem nördlichen Schwarzwald im Norden, also den südwestlichen Rand Bayerns, fast das ganze Land Baden-Württemberg, den grössten Teil der deutschsprachigen Schweiz und einen Teil des österreichischen Vorarlberg. Der schweizerische Teil des Bistums Konstanz hiess "Schweizer Viertel" und umfasste das heutige Kleinbasel, in etwa den Kanton Aargau, Teile der Kantone Solothurn und Bern, die Kantone Uri (ohne Urserental), Schwyz, Ob- und Nidwalden, Luzern, Zug, fast ganz Glarus, sodann die Kantone Zürich, Schaffhausen, St.Gallen (ohne die ehemaligen Bezirke Gaster und Sargans, die seit jeher zum Bistum Chur gehörten) und beide Appenzell. Seit dem 16. Jahrhundert war das Bistumsgebiet konfessionell gespalten (she. unten). In den evangelischen Territorien wie in Appenzell Ausserrhoden galt allerdings die bischöfliche Jurisdiktion noch bis zum Westfälischen Frieden von 1648.

Kirchgenössigkeit zu St. Gallen und Trogen

In vorreformatorischer Zeit war der nördliche Teil Speichers bis 1603 nach St. Laurenzen, kirchgenössig, der südliche Teil bis 1614 nach Trogen. Bis 1572 befand sich der Friedhof für verstorbene Speicherer ebenfalls bei den entsprechenden Kirchen. Als um das Kirchlein im Linsebühl ein Friedhof eingerichtet wurde, konnten die Speicherer ab 1572 ihre Toten auf dem dortigen Friedhof bestatten, bis sie 1603 endlich auch zum Linsebühl kirchgenössig wurden. Der Kirch- und Leichenweg blieb aber beschwerlich und nach der Reformation, die 1525 vollzogen wurde, wurden die Kirchgänger beim Weg durch das Gebiet des Fürstabts von den Andersgläubigen oft verspottet. Diese kirchliche Zugehörigkeit zum Linsebühl dauerte allerdings nur kurz und endete 1614 mit dem Kirchenbau in Speicher.

Kirchgenössigkeit und Kirchwege bis 1614

Kirchgenössigkeit und kirchliches Recht

Bis zur Loslösung von Appenzell aus der äbtischen Herrschaft (Loskauf aus dem letzten Hoheitsrecht 1566) gilt es zu unterscheiden zwischen weltlicher Herrschaft, welche der Abt ausübte und kirchlicher Gerichtsbarkeit, welche dem Bistum Konstanz oblag, die Abtei St. Gallen war kirchlich Bestandteil des Bistums Konstanz. Der Gerichtsbarkeit des Bistums waren beispielsweise eherechtliche Fragen unterstellt. Der Gottesdienstbesuch, also die „Kirchgenössigkeit“ folgte dem Grundsatz „wessen Herrschaft, dessen Religion.“ Der Abt als Landesherr bestimmte somit die Kirchenzugehörigkeit, naheliegenderweise in die nach und nach durch Kirchenbauten (zwischen 907 in Herisau und 1497 in Teufen) entstehenden Kirchhören (= politische Gemeinde). Mit der Reformation von 1525 in St. Gallen ergaben sich weitere Änderungen: Die reformierten Ausserrhoder Gemeinden ohne eigene Kirche (Kirchhöri = politische Gemeinde) blieben in die reformierten Kirchgemeinden der Umgebung kirchgenössig, für Speicher waren dies Trogen und St. Laurenzen, resp. Linsebühl.

Reformation in der Stadt St. Gallen

Die Kirche St. Laurenzen war der wichtigste Schauplatz der Reformation in St. Gallen und zugleich Versammlungsort der Stadtgemeinde und der Ort von Bürgermeisterwahlen. Es war die städtische Obrigkeit (Bürgermeister und Rat), die die Reformation umsetzte. 1524 erliess der städtische Rat das Gebot, dass die Bibel oberste Autorität sei; jeder soll die Bibel selbst auslegen können und nicht an die Interpretation der Kirche gebunden sein. Eine Reformationskommission, der auch Vadian angehörte, überprüfte die Bibeltreue der Predigten. Der Rat verlangte auch, dass alle Prediger den Bürgereid schworen. 1525 wurden auf Beschluss des Rates Altäre und Bildwerke zerstört und eine erst wenige Jahre zuvor gebaute Orgel abgebrochen. Messgewänder und kirchliche Geräte wurden zugunsten der Armen verkauft. An Ostern 1527 wurde in der Kirche St. Laurenzen erstmals das Abendmahl nach reformiertem Brauch gefeiert. Bald lebten in der Stadt nur noch reformierte Bürgerinnen und Bürger. Gemäss dem Grundsatz «Wessen Herrschaft dessen Religion» (cuius regio eius religio) mussten alle Untertanen derselben Konfession wie ihre Herrschaft angehören. 1525 wechselte auch Speicher den Glauben und blieb somit nach St. Laurenzen kirchgenössig.

Klosterkirche und Klosterbezirk

1529 kam es auch in der Klosterkirche zum grossen Bildersturm. In der Kirche und in den übrigen Kapellen im Klosterbezirk wurden Altäre zerstört, Plastiken zerhauen, Bilder zersägt und die Wände weiss übermalt. Nach dem 1. Kappelerkrieg 1529 verkauften Zürich und Glarus als Schirmorte über die Fürstabtei den Klosterbezirk an die Stadt. Damit wurde die Stadt auch Besitzerin von Klosterarchiv und -bibliothek. Nach der Niederlage der Reformierten im 2. Kappelerkrieg 1531 erklärten die katholischen Orte den Verkauf des Klosterbezirks für ungültig. Der Abt kehrte schon am 1. März 1532 zurück.

Appenzell und die Reformation

Ab 1522 fand die Reformation im damaligen Kanton Appenzell erste Anhänger. Auf eine kantonsweite Einführung des neuen Glaubens konnte man sich jedoch nicht einigen. Nach einem Landsgemeindebeschluss von 1525 wurde in jeder Kirchhöri über ihre künftige Konfession abgestimmt. Die unterlegene Minderheit musste auf Verlangen der Mehrheit die Kirchhöri verlassen, hatte jedoch das Recht, sich in einer Kirchhöri ihrer Konfession niederzulassen. In einigen Kirchhören wurden aber auch weiterhin beide Konfessionen geduldet.

Der so entstandene paritätische Kanton hatte Bestand, bis im Zuge der Gegenreformation die beim alten Glauben verbliebene Minderheit im Südosten des Kantons («innere Rhoden») ihre Rekatholisierungsversuche forcierten (Militärbündnis mit Spanien, Kapuziner in Appenzell). Indem die Katholiken im Hauptort Appenzell die Reformierten aufforderten, entweder ihren Glauben aufzugeben oder wegzuziehen, versuchten sie, die Reformierten von der Regierungsgewalt auszuschliessen – nach Gesetz waren sie dazu berechtigt.

Landteilung

Die äusseren Rhoden stimmten an einer ausserordentlichen Landgemeinde vom 2. 6. 1597 einer Landteilung zu, die Kirchhöri Appenzell zwei Wochen später. Unter Vermittlung von Schiedsrichtern aus sechs anderen Kantonen kam schliesslich im Herbst 1597 der Landteilungsbrief zustande, der die Aufteilung des Kantons in zwei Halbkantone besiegelte: das reformierte Appenzell Ausserrhoden («Land Appenzell der Usseren Rhoden») und das katholische Appenzell Innerrhoden.

Text: Peter Abegglen, 2018