Hinter den Schiben

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Haus hinter der Schiben

Zur Geschichte des Hauses Oberdorf 8/ Ass. 71 in Speicher

Nachstehende Ausführungen von Staatsarchivar Dr. Peter Witschi geben Einblick in die Geschichte eines typischen ausserrhodischen Fabrikantenhauses und die soziologische Einordung seiner Eigentümer. Die Ausführungen entsprechen dem Kenntnisstand im Oktober 1998 und sind nicht auf eine Bauuntersuchung abgestützt.

Das Quartier Oberdorf

Das um 1850 acht Häuser umfassende Oberdorf an der alten Strasse von Speicher über die Scheibe nach Teufen bildete sich ab 1700 als "Wohnquartier" aus. Nach dem Chronisten J.B. Rechsteiner soll die Gegend vor dem Kirchenbau als wenig wertvolles Moosgelände "Gemeindsboden" gewesen sein. Der Flurname verweist wohl auf einen ehemaligen Scheibenstand der Speicherer Schützengesellschaft. Einziges Gebäude in der Gegend war ein freistehender Stadel, der 1762 abgebrochen wurde. Den ersten Schritt zur Wohnüberbauung markiert unser 1704 für Ully Kriemler erbautes Haus, zu dem eine umfangreiche landwirtschaftliche Liegenschaft, das sogenannte "Scheibenguth" gehörte. Bis 1784 kamen weitere vier Gebäude hinzu, darunter in unmittelbarer Nachbarschaft das im Kern auf das Jahr 1740 zurückgehende Bauernhaus Ass. 73. Bauherrschaft und Werkmeister Im Zuge der jüngsten Renovation wurde im Giebelfeld nachfolgende, zuvor durch eine Verkleidung verdeckte Inschrift freigelegt: Baujahr: “1704”; Bauherrschaft: "Bauwmeister Ully Kremler - Ursula Koller. sein Ehgmal" Werkmeister: "zimer Meister Hanss HolI". Um 1700 kommt in den Ehe- und Taufbüchern von Speicher nur ein Ehepaar Kriemler-Koller vor. Mit Datum 20. Mai 1688 wird folgende Eheschliessung vermerkt: Uli Kriemler & Ursel Koller. Von 1689 bis 1706 sind mehrere Kinder dieses Ehepaars im Taufbuch vermerkt, als letztes am 10. März 1706: Barbara, Tochter von Uli Kriemler und Ursula Kollerj. Das 1704 erbaute Haus ist demnach für die Familie von Ulrich und Ursula Kriemler-Koller erbaut worden. Zimmermeister war Hans Hohl, der 1705 auch als Erbauer des alten Schulhauses von Speicher AR genannt wird...

An schriftlichen Quellen liegen für das 18. Jahrhundert primär zwei in der Kantonsbibliothek Trogen aufbewahrte Manuskripte von Johannes Bartholome Rechsteiner vor. Beide Dokumente würdigen das Haus eingehend, nennen indessen abweichend von der Giebelinschrift das Baujahr 1710. Zum Zeitpunkt der Chronikabfassung um 1815 dürfte die Giebelinschrift bereits durch ein Täfer verdeckt gewesen sein; sonst hätte der Chronist wohl das Baujahr entsprechend der Inschrift aufgeführt.

Die Häuserchronik Rechsteiners vermerkt zu Nr. 55 in schlecht lesbarer Handschrift und wenig systematischer Weise: „Zur Scheibenböchel, das ober Maas genant, 1710: Ein Hauss' mit einem gewölbten Kehr. Ully Kriemler, der Grober genannt, hörten 2 Güttlj, dazu Boden und das Hauss auch gemein; 1762 den alten Stadel, darneben das Hauss, abgebrochen. 1735: Der Grober oder Kriemler hat das ganze Guth gehabt und ist vergantet worden a 3300 fl., falliert. 1735: Hbtm. Johs. Baumgart.1740; Mr. Hs. Caspar Tobler Engelwirt. 1772: Johannes Rüschen seI. witib erkaufft 1200, die Söhne 2000. 1778: erkaufte Baschon Rechsteiner das ganze Guth a fl. 6400; Ao 1795: verkaufft a fl. 7000 mit Holz, vertheilt, dz vorder fl. 4600, hinder fl. 2400. NB. will vor Zeiten kein Hauss da gewesen, heist ein alter Stadel, daraus zu schliessen, das der Boden muss Maasboden gewessen, wo die Schüzer Mauren stehen u. auch Kirchhöre Brönnen."

In der Hauptchronik ist auf Seite 451 zu lesen: "Obermaas, Ao 1710/ Nr. 55 ob dem Mas. Das erste Hauss (ist vermuthl. vor dem Kirchenbau gemeindsboden gewessen), hat Ully Kriemler, Grober genant, ein schön Hauss mit einem gewölbten Kehr gebauen, in das obere Moos genant, hinder der Scheiben (neben den alten Stadel so hemach Ao. 1759 Jahr abbrochen worden), darzu gehörte das ganze Scheibenguth. Will aber die Baukosten des Kriemlers Vermögen überstiegen, so musste das Guth Ao 1735 vergantet werden a fl. 3300. Ao 1736 erkauffte Johanes Baumgartner; Ao. 1742 hat Johs. Baumgartner das halbe Hauss verkaufft, Ao. 1750 das Haus vom Guth verkauft wider, dem Hs. Caspar Tobler a fl. 1000. Ao 1772 Johannes Rüschen Frau und Kinder, das Haus von Hs. Caspar Tobler kaufft (fl.1200); Ao 1805 Johannes Schläpfer, auss dem Rehetobel erkaufft a fl. 3322 so viel aufschlag, er sagte a fl. 3700 erkauft."

Beide Chroniktexte stimmen im Wesentlichen überein und belegen ab 1735 mehrere Eigentümerwechsel und bezogen auf die Liegenschaft wiederholte Aufteilungen und Zusammenlegungen. Gemäss dem ältesten Pfandprotokoll wurde das Haus 1750 mit dem Übergang an Wirt H. C. Tobler vom umliegenden Landwirtschaftsgut abgetrennt. Seither umfasst die alte Parzelle Nr. 37 nur mehr "Haus mit Garten".

Fabrikanten und Politiker als Eigentümer

Während über zweihundert Jahren war das als bürgerliches Fabrikantenhaus erbaute Gebäude zumeist im Besitz von mit der Textilwirtschaft verbundenen Eigentümern. Unterschiedliche Baubefunde bzw. grundbuchliche Eintragungen verweisen auf entsprechende Nutzungen:

  • Erdgeschoss: In der ehemaligen Butik sind Überreste eines Tollofens auszumachen. Gemäss Kaufbrief von 1905 trat der Verkäufer ausdrücklich u. a. "das Kessi im Tholofen" ab. Gemäss Titus Tobler's Sprachschatz von 1837: Tolkessi = Sechtkessi, auch bei Fabrikanten ein grosser Kessel, worin sie Garn sieden.
  • Wohnstube: Die an der bemalten Nordwand auszumachenden, senkrecht verlaufenden Reihen von Zapfenlöchern weisen auf eine ehemalige Vorrichtung zum Garnzetteln hin.
  • Gemäss Servitutenprotokoll hatte die Liegenschaft auf der Westseite auf dem Boden der Nachbarliegenschaft "das Fieselrecht zum Zwecke des Garntröcknens und Scheiterbeigens".

Im 19. Jahrhundert sind quellenmässig wenigstens zwei Eigentümer als Fabrikanten nachzuweisen: 1842: Leonhard Schläpfer, verheiratet mit Anna Barbara Baumgartner, "Fabrikant" 1873: Johann Ulrich Oertle, verheiratet mit Anna Elisabeth Lindenmann, "Fabrikant"

Im Zeitraum von 1735 bis 1805 befand sich das stattliche Fabrikantenhaus zeitweilig im Besitz nachfolgender Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens:

  • 1735: Baumgartner Johannes, Gemeindehauptmann.
  • 1740: Hans Caspar Tobler, Engelwirt
  • 1778: Sebastian (Baschon) Rechsteiner, Ratsherr.
  • 1805: Johannes Schläpfer, Landestatthalter.

Quellenmässig abgestützte Hinweise darauf, dass im Haus zeitweilig eine Wirtschaft betrieben wurde, fehlen. Weder Ulrich Kriemler, noch Johannes Baumgartner oder Sebastian Rechsteiner sind in den obrigkeitlichen Patentprotokollen als Wirte aufgefiihrt. Ebenfalls keinerlei Hinweise auf einen Wirtschaftsbetrieb enthalten die Assekuranzlagerbücher des 19. Jahrhunderts.

Die Eigentümer des 18. und 19. Jahrhunderts sind dem mittleren Segment der dörflichen Oberschicht zuzuordnen. Als typischer Repräsentant dafür kann Landesstatthalter Johannes Schläpfer gelten. Im Hausrodel von 1818 wird sein Haus unter der alten Nummer 55 als "mittelgross" mit einem Asskuranzwert von 1800 Gulden eingestuft. Gemäss Steuerrodel von 1813 war der Landesstatthalter mit einem. Vermögenssatz von 16'000 Gulden eingeschätzt. Er gehörte damit zur mehrere Dutzend Steuerpflichtige umfassenden Gruppe der Fabrikanten. Im Vergleich dazu weit höher eingestuft waren die örtlichen Kaufleute, so Statthalter Tobler mit 80'000 Gulden. Ebenfalls auf die Lebenswelt der Fabrikanten nimmt die jüngere Ausmalung der Wohnstube im 1. Obergeschoss Bezug, die wohl zwischen 1805 und 1825 erfolgte, also vielleicht im Auftrag von Landesstatthalter Schläpfer entstanden sein könnte.